Wie sahen nun die Musikabende zu Haydns Zeit im Schloss Weinzierl aus?
Von mehreren Haydnbiographen finden sich Berichte über die musikalischen Zusammenkünfte. Aus ihnen geht hervor, dass zwei Berufsmusiker und zwei Hobbymusiker (Dilettanten) vom Hausherren zum gemeinsamen Musizieren eingeladen wurden. Sie spielten Geige, Bratsche und Violoncello. Der Baron, seine Familie und etwaige Gäste waren die Zuhörer. Griesinger berichtet nach Haydns späteren Angaben darüber:
“... Ein Baron Fürnberg hatte eine Besitzung im Weinzierl, einige Posten von Wien und er lud von Zeit zu Zeit seinen Pfarrer, seinen Verwalter, Haydn und Albrechtsberger - dieser hat das Violoncell gespielt – zu sich, um kleine Musiken zu hören. Fürnberg forderte Haydn auf, etwas zu komponieren, das von diesen vier Kunstfreunden aufgeführt werden könnte. Haydn nahm den Antrag an, und so entstand sein erstes Quartett welches gleich nach seiner Erscheinung ungemeinen Beyfall erhielt, wodurch er Muth bekam, in diesem Fache weiter zu arbeiten.“
Es handelte sich dabei wahrscheinlich um folgende Besetzung:
Die erste Geige spielte der Fürnbergsche Benefiziat an der Schlosskapelle Johann Joseph Fromiller, die zweite Geige war mit dem Gutsverwalter Mathias Leonhard Penzinger besetzt, der Komponist selbst spielte die Bratsche (er konnte gleichermaßen mit der Geige wie mit der Viola umgehen) und Albrechtsberger – wahrscheinlich der später berühmte Theoretiker Johann Georg, Domorganist in Wien und Kontrapunktlehrer Beethovens – war der Cellist. Diese Annahme wird durch Dokumente über die damalige Tätigkeit von J. G. Albrechtsberger als Organist der nahe gelegenen Wallfahrtskirche Maria Taferl unterstützt.
Auch in der Biographie „Le Haydine“ vom Giuseppe Carpani (Mailand 1812) wird die Szene in Schloss Weinzierl beschrieben. In dieser Darstellung kommen die Spotanität des Wunsches und die Unmittelbarkeit seiner Erfüllung durch den jungen Komponisten deutlicher zum Ausdruck:
„Eines Tages sagte der Baron zu Haydn, dessen Trios jeden Abend gespielt wurden: „Du könntest mir ein Quartett machen“. – „Ich werde es versuchen“, antwortete unser Joseph. Er nahm die Feder zur Hand, und es entstand jenes Quartett mit Sextolen in B-Dur, das alle Musikliebhaber sofort lernten.“
Wir erfahren also, dass auch andere Werke Haydns, seine frühen Streichtrios gespielt wurden und zwar sehr oft und dass der Hausherr auf Grund der Zahl der zufällig anwesenden Musiker und ihrer Instrumente von Haydn eine Musik verlangte, bei der alle vier Anwesenden mitspielen konnten. Und wir bemerken, dass Haydn dem Wunsch des Barons schnell und ohne Umschweife nachgekommen sein muß, so als sei das Komponieren von Streichquartetten das Selbstverständlichste von der Welt. Tatsächlich jedoch betritt Haydn kompositorisches Neuland. Er schreibt sein allererstes Streichquartett B-Dur op.1/1. Die „Gattung Streichquartett“ existiert zu diesem Zeitpunkt noch nicht.(Boccherini hat etwa zur gleichen Zeit ebenfalls erste Quartette verfasst).
So wird diese Szene zu einem eindrucksvollen Beispiel für Haydns unglaubliche Fähigkeit, sich spontan auf neue Herausforderungen einzustellen und kreativ darauf zu reagieren. Und sie zeigt, wie frei sein schöpferischer Geist ist: Er braucht keine vorgegebenen Regeln, keinen Kanon der kompositorischen Konventionen, um ein Werk zu schaffen, das von allen Anwesenden begeistert aufgenommen wird und dem noch viele Divertimenti a quattro, folgen werden (insgesamt 10 frühe Quartette dieser Art).
Die Aufführung der ersten Streichquartette erlebt auch ein preußischer Offizier mit, Major Weirach. Er ist als Kriegsgefangener bei den Fürnbergs einquartiert und wird als Gast behandelt. Er berichtet:
„Daß er von diesem ebenso bescheidenen als genialen Künstler dessen erste Quartetten selbst vorgetragen hörte. Der bis zur Ängstlichkeit bescheidene Mann war, ohnerachtet alle Anwesenden von seinen Compositionen entzückt waren, nicht zu überzeugen, dass seine Arbeiten werth seien in der musicalischen Welt bekannt gemacht zu werden.“
Diese Beobachtungen bestätigen die scharfe Selbstkritik, die Haydns musikalisches Schaffen auch weiterhin begleiten und fördern wird. Jene Bescheidenheit, übersteigert ins Ängstliche, wie sie hier berichtet wird, zeigt wohl, dass der junge Mann, dem unmittelbaren Erlebnis des Erfolges seiner Arbeit noch nicht ganz gewachsen war. Aber Selbstbewusstsein und Souveränität werden sich noch einstellen.